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Lehrstuhl Futurologie Berlin

Ehrenpräsident der Weltbürger in Deutschland WFM - Germany e.V.

Am 4. März 1998, einen Tag vor seinem 89. Geburtstag, verstarb der langjährige Lehrstuhlinhaber der Politischen Wissenschaft der Zukunftsforschung. Professor Dr. Dr. Ossip Kurt Flechtheim lebte seit seiner Emerierung im Berliner Akademikerviertel Dahlem. In der dortigen St. Annen Kirche fand am Freitag, den 13. März, auch die Trauerfeier statt. Anfang der 70 Jahre wirkte Flechtheim bei verschiedenen Tagungen im Rahmen des Achberger Institutes mit. Dort traf er u.a. mit Joseph Beuys, Wilhelm Schmundt und Peter Schilinski zusammen. Bei diesen Begegnungen nahm er u.a. den Gedanken der Dreigliederung auf, welcher auch in seinem zuletzt im Peter Lang Verlag (Bern / Mittelstedt, Flechtheim, Mögle-Stadel, Wieland Frankfurt, Main) erschienen Werk "Ist die
Zukunft noch zu retten?" Erwähnung fand. Ossip K. Flechtheim wurde am 5. März 1909 im russischen Nikolajew (Ukraine) geboren und wuchs ab 1910 in Münster (Westfalen) auf. Sein Vater war Kaufmann (Getreidehandel) und jüdischen Glaubens, wie auch seine Mutter. Ossip Flechtheim wurde und blieb im Laufe seines Lebens konfessionslos. Es waren kosmopolitische Gesinnung und der Wunsch nach sozialen Veränderungen, welche ihn 1927 nach dem Abitur an der Hindenburgschule in Düsseldorf als 18-Jährigen in die KPD zogen. Und es war die ideologische Enge dieser Partei, welche ihn fünf Jahre später wieder davontrieb.

Flechtheim studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten in Freiburg, Paris, Köln (Dr. jur. 1934), Genf (Diplom 1940), Berlin und Heidelberg (Dr. phil. 1947). Von 1931 bis 1933 war er Referendar beim Oberlandesgericht Düsseldorf. 1933 wurde er aus politischen (Mitgliedschaft in der Widerstandsgruppe "Neu Beginnen") und rassischen Gründen (seiner jüdische Abstammung wegen) aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Im Jahre 1935 wurde er schließlich für 16 Tage verhaftet. Nach seiner Entlassung, die er glücklichen Umständen verdankte, ging er in die Schweiz, wo er sein Studium in Genf fortsetzte. 1939 emigrierte er in die Vereinigten Staaten und arbeitete dort zunächst im Horkheimer-Institut für Sozialforschung der Columbia Universität in New York City, wo er u.a. Erich Fromm, Herbert Marcuse und Isaac Asimov kennenlernte. Später war er als Dozent und schließlich als Professor an verschiedenen Hochschulen tätig. 1942 heiratete er Lili Therese Faktor, Tochter von Emil Faktor, dem ehemaligen Chefredakteur des Berliner Börsenkurier. Wer das Ehepaar Flechtheim kennt, der weiß, daß Ossip Flechtheims Leben und Werk nicht unerheblich von seiner Frau inspiriert und unterstützt wurde. Den Begriff Futurologie als systematische und kritische Behandlung von Zukunftsfragen hat Ossip Flechtheim 1943 in den Vereinigten Staaten wissenschaftlich geprägt. Bis 1943 lehrte er an der "Schwarzen-Universität" von Atlanta, der Heimatstadt von Martin Luther King. Als seine schwarzen Studenten zum Kriegsdienst eingezogen wurden, führte er seine Lehrtätigkeit am Colby und am Bates College (Main) fort. 1946 kehrte er als Sektions- und Bürochef beim "Amt des US-Hauptanklägers für Kriegsverbrechen in Berlin" nach Deutschland zurück. Von 1947 bis 1951 führte er seine Lehrtätigkeit in den Vereinigten Staaten fort. 1948 erschien sein Werk über "Die KPD in der Weimarer Republik". Von 1952 bis 1959 war er ordentlicher Professor an der Deutschen Hochschule für Politik. 1959 wurde er, bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1974, Professor für die Wissenschaft von der Politik im Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin. Seit 1952 war er Mitglied der SPD, welche er aber 1962 infolge der Entwicklungen nach dem Godesberger Programm wieder verläßt. Stattdessen wurde er Mitgründer des Republikanischen Clubs in Berlin und publizierte 1964 in der Europäischen Verlagsanstalt das Buch "Eine Welt oder keine?". Erst 1980 kehrt er in die Parteipolitik als Mitglied der GRÜNEN (Alternative Liste) zurück, da er, die Kinderkrankheiten wohl sehend, diesen Ansatz zu einer notwendigen gesellschaftlichen Veränderung hin zu mehr Solidarität mit Natur und Menschheit für authentisch und unterstützenswert hielt. Auf der Rückseite des Ossip Flechtheim im Mai 1986 von der Humanistischen Union verliehenen Fritz-Bauer-Preises ist zu lesen "Gesetze sind nicht auf Pergament, sondern auf die empfindliche Menschenhaut geschrieben". Seit Mitte der 80er Jahre nahm er auch als Vortragsredner und Podiumsgast an mehreren Veranstaltungen der Weltföderalisten in Berlin teil. 1989 erhält er von der FU Berlin die Ehrendoktorwürde und vom Berliner Senat die Ernst-Reuter-Medaille verliehen. Er war u.a. Ehrenmitglied der Gesellschaft für Zukunftsfragen sowie der Gesellschaft für Zukunftsmodelle und Systemkritik. Seit 1992 ist er Ehrenpräsident der Weltföderalisten in Deutschland gewesen. Trotz der Vielfalt seiner publizistischen Verpflichtungen, neben seinen Büchern auch Zeitungsartikel u.a. für Frankfurter Rundschau und ZEIT, war er Gründungsmitglied und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitglied des PEN Club, im Konzil der Friedensforscher und im Kuratorium der Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung. Diese über lange Jahre fast unermüdliche Arbeitsleistung resultiert aus der Erkenntnis, "daß auch das Mögliche oft nicht erreichbar gewesen wäre, wenn man nicht nach dem Unmöglichen gestrebt hätte." In diesem Sinne ist auch sein 1970 erstmalig erschienenes Werk "Futurologie - Der Kampf um die Zukunft" zu verstehen. Dem folgte 1974 "Zeitgeschichte und Zukunftspolitik". Dazwischen liegt eine ganze Palette weiterer Schriften.
Der Autor dieser Zeilen erinnert sich voller Dankbarkeit an jene Wochen-enden, an denen er als Herausgeber der letzten Ausgabe des fast schon testamentarischen Buches "Ist die Zukunft noch zu retten? Weltföderation - Der Dritte Weg ins 21. Jahrhundert" im Hause Flechtheim Gast sein durfte. Nicht nur die Diskussion über zukunftswissenschaftliche Konzepte, u.a. auch über Soziale Dreigliederung im globalen Rahmen, blieben mir hierbei in prägender Erinnerung. Als bleibendes Geschenk aus dieser Zusammenarbeit mit Ossip Flechtheim habe ich seine Zartheit und Herzlichkeit in der zwischenmenschlichen Begegnung wahr- und mitgenommen. Auch viele andere schätzten diese vom gesellschaftlichen Leben nicht korrupierte und weltoffene Menschheitlichkeit, verbunden mit der seltenen Kunst des echten Zuhörens, um den anderen als menschliches und im Werden befindliches Wesen wahrzunehmen. Am 9. August 1985 antwortete er in der FAZ auf die Frage, was er am meisten verabscheue: "Die Unmenschlichkeit" und den Krieg der Menschen gegeneinander. Ossip Flechtheim war einer von jenen sozialengagierten Kosmopoliten, Zukunftsforschern und Morgenlandfahrern, die unter Einsatz ihres Lebens den Samen des Menschlichen keimen lassen. Eine seiner Maxime findet sich in einem Vortrag von Rudolf Steiner (05.10.1919) wieder: "Soziale Ideen setzen voraus, daß sich der Mensch als Weltbürger empfindet."

Stephan Mögle-Stadel