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Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben

Schweitzer geht 1962 in der Quintessenz seines philosophischen Denkens davon aus, dass sich Menschen beim Nachdenken über sich selbst und ihre Grenzen wechselseitig als Brüder erkennen, die über sich selbst und ihre Grenzen nachdenken. Im Zuge des Zivilisationsprozesses wird die Solidarität, die ursprünglich nur auf den eigenen Stamm bezogen war, nach und nach auf alle, auch unbekannte Menschen übertragen. In den Weltreligionen und Philosophien sind diese Stadien der Kulturentwicklung konserviert.
Albert Schweitzer auf einer Zeichnung von Arthur William Heintzelman (1950er Jahre)

Analog wirkt in den weltverneinenden Religionen des indischen Kulturkreises nach der Philosophie von Arthur Schopenhauer eine Ausbreitung des Mitleids, das im Brahmanismus jenseits der (wahren) Metaphysik im Leid der (falschen) materiellen Welt begründet ist und deshalb abgelehnt, im Buddhismus mit Bezug auf eine erweiterte Metaphysik gefordert und im Hinduismus ins Alltagsleben integriert wird, das als Spiel der Götter mit Menschen verstanden wird (Bhagavad Gita). Die geforderte Teilnahmslosigkeit gegenüber Leid verpflichtet zum Pazifismus.

Auch die Ausbreitung des weltbejahenden Zoroastrismus (nach der Philosophie von Friedrich Nietzsche) persischer Siedler, vereint in Solidarität gegen heidnische Nomaden, beeinflusst die griechische Philosophie, in der der Stoiker Panätios die Weltbejahung mit einer allumfassenden Vernunft begründet, in der Seneca, Epiktet und Marc Aurel als Tugend aller Tugenden den Humanismus entwickeln.

Im Schmelztiegel der persischen und der griechischen Kultur waren das Judentum und das Christentum entstanden, die die Welt als wahr, aber unvollkommen sehen. Das Christentum fordert Weltentsagung zur Ausweitung des Guten im Menschen und findet auf der Suche nach dem Gebot aller Gebote ebenfalls zum Ideal des Humanismus.

Seit der Renaissance verwachsen die außengeleitete Tugend aller Tugenden und das innengeleitete Gebot aller Gebote zu einem weltlichen Recht (Erasmus von Rotterdam), Grundlage für den Utilitarismus von Jeremy Bentham, während David Hume eine natürliche Empathie als Ursache annimmt. Immanuel Kant verbindet diese mit dem Dualismus und verlegt die Moral in der Form des Kategorischen Imperativ in die Natur des Menschen, der in der geistigen Welt als Subjekt lebt und in der gegenständlichen nur Objekt ist.

Das häufige Scheitern am moralischen Anspruch macht aus dem guten Gewissen einen Mythos, während die Zivilisation das Vertrauen und den Sinn mit der Folge von Resignation und reaktiver Sentimentalität untergräbt. Damit dieser Druck dazu führt, dass das Subjekt sein Sein als „Wille zum Leben inmitten vom Willen zum Leben“ anderer begreift und diese Erfahrung mit dem Liebesgebot Jesus unterfüttert, braucht es Anleitung. Dann verbindet es die Gebote des Gewissens in der Form des Kategorischen Imperativ in der geistigen Welt mit den Tugenden in der gegenständlichen Welt und erkennt den Unterschied zwischen böse und gut als Ausdruck lebensschädigender und lebensfördernder Wirkungen und findet darin den höchsten sittlichen Wert.

Dieser sittliche Wert ermöglicht eine Lebensanschauung, in der Lebensbejahung keine Erkenntnis-, sondern eine Willenskategorie ist, Lebensverneinung in der Rücksichtnahme auf den Willen anderer liegt und Lebensentsagung im verinnerlichenden, sich selber sammelnden (Musik) und vervollkommnenden Gebot besteht, auch das eigene Leben aus Berufung auf den sittlichen Wert der Ethik zu heben, die Volksweisheiten von „Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu“ bis hin zu „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ vereint und auf alles Lebendige überträgt.

Ethische Kultur

Entscheidungen zwischen Moral und Sachzwang führen zur Beschäftigung mit dem Ideal der Ethik, in die der Mensch hineinwächst. Die Verantwortung braucht einen individuellen, sozialen und politischen Willen, der dem eigenen Dasein einen geistigen Wert verleiht und zur gegenständlichen Welt ein Verhältnis knüpft, in dem der Mensch von einer naiven zu einer vertieften Weltbejahung gelangt. Elementares Denken ist die Voraussetzung einer verständlichen und überzeugenden Ethik, die bei der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in dieser wie Sauerteig im Brot wirkt.

Mensch zu Mensch

Das zwischenmenschliche Verhältnis ist von Fremdheit und Kälte geprägt, weil sich niemand traut, sich so herzlich zu geben, wie er ist. Die Überwindung verwurzelt die Herzlichkeit in der Ehrfurcht vor dem Leben und verhilft zu einer Güte in Bescheidenheit, weil man bei jeder Entscheidung immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird und zu resignieren droht. Doch gerade die Jugend verfügt über die Energie, die resignierte Vernünftigkeit der gereiften Persönlichkeit zu hinterfragen und hat den Mut, einen moralischen Kompass für einen lebensfördernden Umgang mit Sachzwängen zu justieren.

Mensch zu Kreatur

Da die Kreatur wehrlos der menschlichen Willkür ausgesetzt ist, beziehen ethische Entscheidungen die Willkür mit ein und schädigen Leben nicht aus Gedanken- oder Teilnahmslosigkeit. Mitleid mit Tieren ist trotz ihrer angeblichen Seelenlosigkeit keine Sentimentalität, denn alles notwendige Töten ist ein Grund zu Trauer und Schuld, der man nicht entkommen, die man nur verringern kann.

Frieden oder Atomkrieg

Im Pazifismus, früher oft als Utopie belächelt, sieht Schweitzer ein überlebenswichtiges Gegengewicht zur Patt-Situation der Abschreckung. Die Gesinnung der Unmenschlichkeit will sich die Entscheidungsfreiheit über Krieg oder Frieden als Voraussetzung der Friedensgarantie mit einer Position der Stärke erhalten. Sie übersieht die Bedrohung der Stärke durch die Ausweitung von Sachzwängen zur Aufrüstung mit der Folge einer Steigerung der Kriegsgefahr als selbsterfüllende Prophezeiung (Rüstungsspirale). Sie bemerkt nicht, dass auch der Sieger vom Sieg nichts hat.

Los von der Gesinnung der Unmenschlichkeit! Los von den Atomwaffen!

Trotz aller Zweifel rät Schweitzer aus Angst vor der Gesinnung der Unmenschlichkeit zur einseitigen Abrüstung. Da die resignierte Vernunft nicht erkennt, dass Vernichtungskriege mehr Probleme schaffen als lösen, kann die Ehrfurcht vor dem Leben nur mit Mut die Hoffnung entwickeln, mit der die Öffentlichkeit die Idee einer weltbejahenden Kultur entwirft und die Verantwortung über Krieg und Frieden übernimmt.